Der gesetzliche Mindesturlaub verfällt nicht automatisch nach Ablauf der dreijährigen Verjährungsfrist.
Weist ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht auf den möglichen Verfall von Urlaubsansprüchen hin und fordert er den Arbeitnehmer nicht zu deren Inanspruchnahme auf, kann ein Urlaubsanspruch nicht verjähren. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 22. September 2022 (Az.: C-120/21).
I. Sachverhalt
Die Parteien streiten über die Abgeltung von Urlaubsansprüchen. Die Klägerin war von 1996 bis 2017 bei der Beklagten tätig. Über Jahre hinweg hatte sie ihren Urlaub von jährlich 24 Arbeitstagen nur zum Teil genommen. Im März 2012 bescheinigte ihr die Beklagte, dass der Resturlaubsanspruch aus dem Jahr 2011 und den Vorjahren Ende März 2012 nicht verfallen wird, weil sie ihren Urlaub wegen des hohen Arbeitsanfalls nicht antreten konnte. In der Folge summierten sich die offenen Urlaubstage auf über 100 Tage, deren Abgeltung die Klägerin nach ihrem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis im Jahr 2017 begehrte. Die Beklagte hatte die Klägerin zu keinem Zeitpunkt zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufgefordert, noch hatte sie die Klägerin darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub verfallen werde. Als sich die Beklagte auf die Abgeltung mit dem Hinweis auf einen Verfall und die Verjährung der Ansprüche berief, erhob die Arbeitnehmerin Klage.
Das Bundesarbeitsgericht wandte sich im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens an den EuGH (Vorlagebeschluss vom 29. September 2020, Az.: 9 AZR 266/20 (A)) mit der Vorlagefrage, ob die Regelverjährung von Urlaubsansprüchen gemäß §§ 194 Abs. 1 und 195 BGB nach drei Jahren mit dem Europarecht vereinbar sei, sofern Arbeitgeber die ihnen auch im Rahmen des Verfalls von Urlaubsansprüchen auferlegten Mitwirkungsobliegenheiten nicht beachten.
II. Entscheidungsgründe
Der EuGH kam im Rahmen der Vorabentscheidung zu der Feststellung, dass sich ein Arbeitgeber nicht auf die Verjährung des Urlaubsanspruchs berufen kann, wenn er zuvor seiner urlaubsrechtlichen Hinweis- und Mitwirkungspflichten gegenüber dem Arbeitnehmer nicht nachgekommen ist.
Es obliege dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer konkret auf die drohende Verjährung des Urlaubsanspruchs hinzuweisen und zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufzufordern. Die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, könne nicht vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert werden, der als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags gelte, während der Arbeitgeber damit eine Möglichkeit erhielte, sich seiner eigenen Pflichten unter Berufung auf einen fehlenden Antrag des Arbeitnehmers auf bezahlten Urlaub zu entziehen.
Entsprechend könne der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums nur unter der Voraussetzung verloren gehen, dass der betreffende Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch rechtzeitig auszuüben. Ließe man aber zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen könne, ohne ihm tatsächlich ermöglicht zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderlaufe.
Zwar könne der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran haben, nicht mit Urlaubsanträgen oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden. Ein derartiges Interesse sei jedoch dann nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber sich dadurch, dass er davon abgesehen habe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen, selbst in eine Situation gebracht hat, in der er mit solchen Anträgen konfrontiert wird. Daraus dürfe er zulasten des Arbeitnehmers keinen Nutzen ziehen.
III. Bewertung
Mit dem vorliegenden Urteil unterstreicht der EuGH erneut die besondere Bedeutung der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers bei der Urlaubsgewährung. In der Folge ist nicht nur der Verfall, sondern auch die Verjährung von Urlaubsansprüchen von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers zur Information des Arbeitnehmers darüber abhängig. Kommt der Arbeitgeber seinen Informations- und Hinweispflichten hinsichtlich der drohenden Verjährung von Urlaubsansprüchen des Arbeitnehmers nicht nach, verjähren angesammelte Ansprüche auf gesetzlichen Mindesturlaub nicht nach der 3-jährigen Verjährungsfrist.